Der Lein ist eine uralte Kulturpflanze. Bereits die alten Ägypter nutzten ihn für Kleidung und um ihre Mumien einzuwickeln. In Europa trug man Kleidung aus Leinen, lange bevor sich die Baumwolle durchsetzte.
Mich fasziniert diese Pflanze schon seit Jahren – wegen ihrer zarten Schönheit und ihrer erstaunlichen Robustheit. Vor zwei Jahren reiste ich im Juni in die Normandie, mitten in der Blütezeit des Leins.
Wusstest du, dass Lein heute hauptsächlich in der Normandie angebaut wird? Dort wächst rund 40 % des auf dem Weltmarkt gehandelten Leins. Das kleine Städtchen Doudeville, im Zentrum des Départements Seine-Maritime, nennt sich denn auch stolz die „Hauptstadt des Leins“. Weitere 40 % der weltweiten Leinenproduktion wachsen in den Beneluxstaaten – insbesondere in Belgien und den Niederlanden.
Lein wird im März gesät und blüht Mitte Juni. Die langhalmigen Sorten für Textilien erreichen eine Höhe von etwa 80 bis 100 Zentimetern. Gegen Ende seines Wachstums legt der Lein nochmal richtig zu – und muss noch vor der Samenbildung geerntet werden.
Dabei kommen spezielle Maschinen mit Zangen zum Einsatz, die die Pflanzen mitsamt Wurzel aus dem Boden ziehen. Die Stauden bleiben danach etwa fünf bis sieben Wochen auf dem Feld liegen. Während dieser Zeit setzt die sogenannte Tauröste ein: Mikroorganismen zersetzen die Pektine, wodurch sich die Fasern später leichter vom Stängel lösen lassen.
Nach der Röste wird der Lein bei trockenem Wetter getrocknet, zu Ballen gerollt und in mehreren Arbeitsschritten weiterverarbeitet: gebrochen, gehächelt, versponnen und schließlich verwoben.
Besonders aufwendig ist das sogenannte Riffeln, Brechen und Schwingen, bei dem Holzanteile entfernt und die Fasern gereinigt werden. Beim Hecheln werden die Fasern parallelisiert und die Bastfasern von den kürzeren Fasern getrennt – ein entscheidender Schritt für die spätere Spinnbarkeit.
Ein blühendes Leinenfeld ist ein atemberaubender Anblick. Die zarten, hellblauen Blüten öffnen sich nur für wenige Stunden am Vormittag – und verblühen noch vor dem Mittag. Doch schon am nächsten Tag öffnen sich an derselben Pflanze neue Blüten.
Lein hat einige Vorteile gegenüber Baumwolle:
Er benötigt rund fünfmal weniger Wasser.
Er kommt ganz ohne Pestizide aus.
Allerdings laugt Lein den Boden einseitig aus und kann deshalb nur alle fünf bis sechs Jahre auf demselben Feld angebaut werden. In der kleinteiligen Schweizer Landwirtschaft ist ein grossflächiger Anbau daher schwierig. Trotzdem setzt sich die Vereinigung Swiss Flax für die Wiederverbreitung des Leins in der Schweiz ein.
Obwohl in Europa also der Grossteil des Leins wächst, findet die Weiterverarbeitung kaum mehr in Europa statt. Rund 80 % der europäischen Leinenfasern werden nach China exportiert, wo sie versponnen und verwoben werden. Der Rest geht fast ausschliesslich nach Litauen, dem Zentrum der europäischen Leinenindustrie.
Unsere faltbaren Leinenhüte werden ebenfalls dort hergestellt. Die Leinenblusen hingegen entstehen im Kanton St. Gallen, der eine lange Textiltradition hat. Früher kamen die schönsten Leinenstoffe, mit dem feinsten Glanz aus dieser Textilstadt. Meist wurde der Lein dazu im St. Galler Rheintal angebaut, das für Pflanzen mit besonders langen Halmen bekannt war.
Kleidungsstücke, die aus 100% europäischem Lein hergestellt werden, begeistern mit natürlicher Atmungsaktivität, feiner, kühlender Struktur und einem zeitlosen Aussehen. Wie schön, dass heute die Wertschätzung dieser alten Kulturpflanze am zunehmen ist.